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Am Abend des 22. November 1918 rattert ein D-Zug durch die Dunkelheit Richtung Berlin. Im Salonwagen beugt sich ein Mann mit Rauschebart und Zwicker über einen Stapel geheimer Akten: der Sozialist Kurt Eisner, der zwei Wochen zuvor den Freistaat Bayern ausgerufen hat.
Die Dokumente stammen aus dem innersten Machtzirkel des Deutschen Kaiserreichs während der Julikrise 1914 - Berichte der bayerischen Gesandtschaft in Berlin. "Frankreich in vier Wochen niederwerfen", liest Eisner, "günstige Stunde", "die Folge wäre also der Krieg" und "Blankovollmacht". Er findet, was er sucht: Beweise für die deutsche Kriegsschuld.
Die vier aussagekräftigsten Depeschen wählt Eisner aus und kürzt sie. In seiner Erregung verwechselt er den bayerischen Botschafter mit dessen Stellvertreter. In Berlin ist der Ministerpräsident mit Theodor Wolff verabredet, Chefredakteur des "Berliner Tageblatts", einer der beiden wichtigsten deutschen Tageszeitungen. Eisner will die Dokumente veröffentlichen.
Als Eisner im Zug sitzt, herrscht offiziell noch immer Krieg. Seit dem 11. November, dem Waffenstillstand von Compiègne, schweigen jedoch die Geschütze. Die Soldaten kehren nach Hause zurück. In München und Berlin haben Revolutionäre die Macht übernommen, Kaiser Wilhelm II. und General Erich Ludendorff sind ins Exil geflohen. Brot ist knapp.
Wegen Majestätsbeleidigung im Gefängnis
In diesen Tagen bergen die Akten des bayerischen Botschafters enorme politische Sprengkraft. "Eisner Leaks" nennt sie, in Anlehnung an die jüngsten Datenlecks von WikiLeaks bis Football Leaks, der Autor und SPIEGEL-Redakteur Volker Weidermann in seinem Buch "Träumer" über die Münchner Revolution.
Die Akten liefern Frankreich und Großbritannien Argumente, um gewaltige Reparationen von Deutschland zu fordern. Sie stellen die Elite des Reiches bloß, die das Land in den Weltenbrand geführt hat. Und sie diskreditieren die SPD, denn die Sozialdemokraten haben den Krieg lange mitgetragen.
Dass er sich mit der Veröffentlichung viele Feinde schaffen wird, ahnte Eisner sicher. Doch der Revolutionär hat sich für die Wahrheit entschieden. Nur wenn die Akten allgemein zugänglich werden, glaubt er, seine Ziele erreichen zu können: Frieden und Demokratie in Bayern und Deutschland.
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Kurt Eisner: Pazifist, Revolutionär, Mordopfer
Foto: ullstein bild/ Roger-Viollet/ Albert Harlingue
Geboren wurde Eisner 1867 in Berlin, beide Eltern stammten aus jüdischen Kaufmannsfamilien. Nach dem Abitur studierte er Philosophie und Germanistik, arbeitete dann für Zeitungen. Unter dem Pseudonym "Tat Twam" attestierte er 1897 einem fiktiven Kaiser "Cäsarenwahn" und erhielt wegen Majestätsbeleidigung neun Monate Haft im Gefängnis Plötzensee.
Nach München zieht Eisner 1910, da ist er 43 Jahre alt. Er schreibt für die sozialdemokratische "Münchner Post" und gibt das "Arbeiter-Feuilleton" heraus. Am 28. Juni 1914 erschießt ein serbischer Nationalist den österreich-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand - mit der "Julikrise" bahnt sich in Europa ein Konflikt der Großmächte an. Eisners Zeitung druckt ein Extrablatt gegen den Krieg. Viele Deutsche aber sehnen den Kampf herbei.
"Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche", dröhnt Kaiser Wilhelm II. am 4. August 1914 im Reichstag. Nun stimmt selbst die SPD für Kriegskredite und schwenkt auf eine Politik des Burgfriedens ein: Der Klassenkampf muss warten, bis der Weltkrieg gewonnen ist. Auch Eisner hat sich für die Darlehen stark gemacht, denn er befürchtet einen Angriff des zaristischen Russlands.
Bruch mit der SPD
Zwei Wochen später jedoch stößt Eisner bei Recherchen auf ein Telegramm, in dem der Zar eine Friedenskonferenz in Den Haag vorschlägt - für den Journalisten der Beweis, dass nicht Russland den Krieg wollte, sondern Deutschland. Eisner wandelt sich zum Pazifisten. Aber kaum jemand interessiert sich für seine Erkenntnisse: Die "Münchner Post" weigert sich, seine Texte zu drucken. Die SPD-Führung verbietet ihm, als Berichterstatter an die Front zu ziehen. Um gegen den Krieg anzuschreiben, bleibt ihm nur das "Arbeiter-Feuilleton", dem aber die Abonnenten wegbrechen.
An der Westfront entwickelt sich ein zäher Stellungskrieg, Soldaten errichten Grabensysteme, Ingenieure und Chemiker ersinnen immer tödlichere Waffen. Manchmal sterben an einem einzigen Tag 10.000 Soldaten an Giftgas, Maschinengewehrsalven oder Schrapnellen.
Fotos von Weltkrieg-Schlachtfeldern:Vernarbtes LandVon Simon Michaelis
Bald bröckelt in der SPD der Rückhalt für den Burgfrieden: 1917 spaltet sich die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) ab. In Bayern steigt Eisner auch ohne Amt zur wichtigsten Figur der USPD auf und bewegt Ende Januar 1918 in München 8000 Munitionsarbeiter zum Streik. Eisner wird verhaftet und muss erneut ins Gefängnis.
Die Moral des Deutschen Heeres bricht im August, als britische Panzer die Linien durchstoßen. Wenn bayerische Soldaten aus dem Osten an die Westfront verlegt werden, desertiert jeder Fünfte. Ende September ersuchen die Deutschen um einen Waffenstillstand. Überall im Reich rufen linke Gruppen zum Umsturz auf.
Wegen des Krieges gibt es 1918 kein Oktoberfest. Auf der Theresienwiese versammeln sich am 7. November 50.000 Arbeiter, Soldaten sowie Matrosen, die auf dem Rückweg vom Mittelmeer in München gestrandet sind. Auf den unteren Stufen vor der Statue der Bavaria steht Eisner, erst seit drei Wochen wieder frei. Jetzt müsse gehandelt werden, ruft der Bärtige mit seiner kratzigen, hellen Stimme. Immer mehr Menschen kommen dazu - und sie folgen Eisner.
"Wir bekennen unsere Schuld"
Von Kaserne zu Kaserne ziehen die Soldaten und Arbeiter, erbeuten Maschinengewehre, besetzen den Hauptbahnhof und die Residenz des bayerischen Königs; Ludwig III. ist am Nachmittag heimlich mit einem Auto auf ein Landschloss am Chiemsee geflüchtet. Im bayerischen Außenministerium verbrennt ein Staatssekretär geheime Akten. Doch als die Revolutionäre eintreffen, finden sie einige Papiere unbeschädigt: die Dokumente von "Eisner Leaks".
Am späten Abend übernimmt die Menge den Landtag. Eisner hält eine 20-Minuten-Rede, ruft Bayern zum Freistaat und sich selbst zum provisorischen Ministerpräsidenten aus. Die Revolution siegt: ohne Widerstand, ohne Gewalt.
Anfang 1918 hatte US-Präsident Woodrow Wilson den Deutschen milde Friedensbedingungen angeboten, sofern sie mit dem Kaiserreich brechen und sich für ihre Taten verantworten. Genau das hat Eisner vor. "Wir bekennen unsere Schuld", ruft er in einer Rede. Mit der Veröffentlichung der Dokumente will er den Amerikanern beweisen, wie ernst er es meint, und steigt am 22. November in den Zug nach Berlin.
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Am Morgen trifft er Wolff vom "Berliner Tageblatt" und schwärmt von der Revolution: "Blut ist nicht geflossen, und es war ein prachtvolles Schauspiel, wir sind alle auf die Straße gegangen und haben die Kasernen gestürmt." Wolff druckt hämische Glossen über die Münchner Revolutionäre - aber die Dokumente nimmt er an.
In der Nacht zum 24. November rotieren die Druckerpressen in der Berliner Schützenstraße und werfen mehr als 100.000 Exemplare aus. Die schlichte Titelzeile: "Aus den Papieren der bayerischen Gesandtschaft".
Weitere Zeitungen veröffentlichen die Auszüge, "Eisner Leaks" schreckt die Welt auf. Sein Vorstoß gefällt den Regierungschefs von Großbritannien, Frankreich und der USA. Auch alle sozialistischen Parteien in Europa loben das Vorgehen. Friedensverhandlungen auf Augenhöhe scheinen möglich.
Viele Deutsche jedoch fühlen sich vom bayerischen Revolutionsführer verraten. Jahrelang haben sie gehungert, die Soldaten Artilleriegranaten und Gasangriffen getrotzt. Nun sollen sie selbst schuld sein? Sozialdemokratische Blätter machen Eisner nieder, Beiträge in der "Deutschen Allgemeinen Zeitung" sollen seine Dokumente widerlegen.
Zwei Kugeln in den Hinterkopf
Hasserfüllte Drohbriefe erreichen die bayerische Staatskanzlei. An Hauswänden hängen Aufrufe zum Mord. Bei der bayerischen Landtagswahl Anfang 1919 strafen die Wähler Eisner ab: Nur 2,5 Prozent stimmen für seine USPD.
Eisner gibt auf. Am 21. Februar 1919 geht er zum Parlamentsgebäude, um seinen Rücktritt als Ministerpräsident bekanntzugeben. Kurz vor der Frauenkirche nähert sich ein junger Mann, zückt einen Revolver und schießt ihm zweimal von hinten in den Kopf. Eisner stirbt sofort.
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Der Attentäter, ein rechtsradikaler Graf, hatte vor dem Angriff geschrieben: "Eisner ist Bolschewist, er ist Jude, er ist kein Deutscher, er fühlt nicht deutsch, untergräbt jedes vaterländische Denken und Fühlen, ist ein Landesverräter." Wenig später schießen rechte Freikorps die Münchner Räterepublik zusammen.
Mit Eisners Tod schwinden die Chancen auf einen milden Frieden. Bei den Verhandlungen in Versailles beharrt die deutsche Delegation im Frühjahr 1919 auf ihrer Unschuld. "Die Deutschen tun wirklich immer nur das Falsche", sagt US-Präsident Wilson kopfschüttelnd. Zwischenzeitlich denken Franzosen und Briten darüber nach, doch noch in Berlin einzumarschieren.
Eine Kommission der Siegermächte untersucht den Kriegsausbruch, zitiert dabei aus dem Leak, übernimmt auch Eisners Verwechslung des bayerischen Gesandten. Und sie kommt zum Schluss, dass Deutschland schuldig sei. Vor allem Frankreich hat unter dem Krieg enorm gelitten, der Osten des Landes ist verwüstet. Ministerpräsident Georges Clemenceau setzt gewaltige Reparationsforderungen an Deutschland durch; im Friedensvertrag von Versailles steht unter Artikel 231 die deutsche Kriegsschuld.
Anders als von Eisner erhofft nehmen die Deutschen diese Schuld jedoch nie an. Sie halten zu den Eliten des Kaiserreichs - und inszenieren sich als Opfer. Bald schon keimt die Dolchstoßlegende.